Erfrischend anders: Ein Kongress der Solidarökonomie

, von Ekkehart Schmidt

Véronique begrüßt mich herzlich und gibt mir einen Filzstift, um meinen Vornamen und meine Organisation auf das Namensschild zu schreiben. Bei ihr steht „Cigales“ und „APES“. Letzteres ist ein Netzwerk zur Förderung der Solidarökonomie, ersteres steht für die „Clubs d’Investisseurs pour une Gestion Alternative et Locale de l’Epargne Solidaire“, erklärt sie mir. Zikaden (frz.: Cigales) kannte ich bislang nur aus dem Provence-Urlaub. Hier in Lille ist Véronique nicht die einzige, die sich in einem solchen Mikroprojekt und gleichzeitig in einem Netzwerk engagiert. Beim zweiten RIPESS-Kongress, der vom 5. – 6. Juli in der nordfranzösischen Metropole stattfand, trafen sich über 80 Teilnehmern aus 15 Ländern – von Irland, Frankreich und Katalonien über Kongo und Mali bis zu den Philippinen –, um Erfahrungen auszutauschen.

Ob Kitas, in denen Eltern den Putzdienst übernehmen, von Bürgern gegründete Energiekooperativen, Zeitbanken, kollektiv geführte Cafés und Restaurants, Open Source Webdesigner, Kaufhäuser für fair gehandelte Waren, Tauschmärkte für gebrauchte Waren, Re- und Upcyclingboutiquen, Permakulturinitiativen, Fahrradkuriere oder solidaritätsorientierte Finanzierungsformen

wie die schon genannten Cigales: Einem aufmerksamen Beobachter kann kaum noch entgehen, dass sich in den vergangenen Jahren etwas verändert hat. Erstaunt wird er feststellen, dass andere Produktions-, Konsum-, Spar- und Austauschformen als die bislang gängigen möglich sind: Sie

arbeiten auf der Basis von Werten wie gemeinschaftlichem Engagement, Solidarität, Nachhaltigkeit und Befriedigung sozialer Bedürfnisse statt Wettbewerb, per Marketing erzeugter neuer Bedürfnisse und Rationalisierungen auf Kosten von Arbeitsplätzen.

Manche dieser Akteure verstehen sich als Vorreiter im Kampf gegen kapitalistische Strukturen, Mechanismen und Zwänge, andere handeln völlig unbeeinflusst von Ideologien. Sie eint jedoch eine sehr ausgeprägte Motivation, anders als rein gewinnorientiert zu wirtschaften. Neben Marktakteuren und der öffentlichen Hand scheint ein neuer Sektor entstanden zu sein: Die Sozial- und Solidarökonomie.

Das dahinter stehende Konzept entstand im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Frankreich und bestimmten lateinamerikanischen Ländern. Frankreich gilt als die Wiege der Solidarökonomie. Anfangs ging es vor allem um die Bereitstellung sozialer und so genannt meritorischer Güter, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind, vor allem Bildungs- und Gesundheitsangebote, die unabhängig von Einkommen und Kaufkraft für jeden verfügbar sind.

Nach Konsolidierung des Wohlfahrtsstaates war die Bereitstellung dieser Güter weitestgehend gewährleistet. In den letzten Jahren entstanden jedoch neue soziale Bedürfnisse, zu deren Befriedigung weder die öffentliche Hand noch die Marktwirtschaft einen Beitrag leisteten. Dazu zählen Probleme in Bezug auf Lebensbedingungen älterer Menschen, Langzeitarbeitsloser, Zuwanderer und ethnischer Minderheiten, Behinderte, ehemalige Straftäter, misshandelte Frauen oder chronisch Kranke. Es entstanden viele neue Genossenschaften, gemeinnützige Vereine und Unternehmen ohne Gewinnausrichtung.

Alleine innerhalb Europas gibt es heute eine große Vielfalt der Sozialwirtschaft, wie sich bei dem Kongress zeigte. In Ländern wie Spanien, Frankreich, Portugal, Irland und Griechenland genießt das Konzept die größte Anerkennung. Spanien hat 2011 als erstes Land in Europa ein Gesetz zur Sozialwirtschaft erlassen, in Frankreich und Luxemburg gibt es sogar eigene Ministerien. In Ländern wie Italien und Luxemburg, besonders aber in Deutschland und Osteuropa kämpft man noch um Akzeptanz und Anerkennung, wenngleich es dort viele Genossenschaften gibt. Giuliana Giorgi von der deutschen Initiative Netzwerk Solidarische Ökonomie betonte gleichwohl, dass vielen Akteuren oft schlicht nur nicht bewusst ist, dass sie dem Sektor zugehören. Probleme der Definition und Abgrenzung zwischen Akteuren der Solidarökonomie und Beschäftigungsinitiativen kennt man auch in Luxemburg, wie Eric Lavillunière vom Netzwerk INEES berichtete. Eine andere Frage ist die, ob man sich als Nischenakteur oder in ausdrücklicher Gegnerschaft zur neoliberalen Marktwirtschaft versteht und sich für einen Paradigmenwechsel einsetzt.

Sicher ist jedenfalls, dass auf lokaler wie globaler Ebene ein dritter Sektor entsteht, der sich als soziale Bewegung versteht, dem es um das Aufzeigen sozio-ökonomischer Alternativen geht. Nach ersten Foren in Lima 1997 und Quebec 2001 treffen sich die Akteure nun alle vier Jahre bei Foren zur „Globalisierung der Solidarität“: Nach 2005 in Dakar fand das letzte Treffen 2009 in Schifflingen statt, organisiert von den luxemburgischen Akteuren OPE und INEES. Die Vorbereitung des nächsten Forums in Manila vom 15. – 18. Oktober 2013 war einer der Kernpunkte des zweiten Kongresses des 2011 in Barcelona entstandenen Netzwerks zur Förderung der sozialen und solidarischen Ökonomie (RIPESS). Hier in Lille ging es auch um den Erfahrungsaustausch und das Initiieren gemeinsamer Aktivitäten wie zum Beispiel der Erstellung einer Studie zur europäischen Sozialwirtschaft. In Workshops debattiert wurden auch Themen wie die Bedeutung der Solidarökonomie als Puffer gegen die Krise und Reparaturbetrieb, Möglichkeiten der Bildungsarbeit und Wege zu einer Erhöhung der Sichtbarkeit des Sektors.

Eine Erkenntnis war: Es ist die Praxis der Selbst-Organisation von Bürgern, nicht die Theorie und Etikettierung, die zählt. Erfrischend die Aufbruchstimmung, die nicht nur Véronique ausstrahlt. Im Gespräch verstand ich: Was sie bei den Cigales in Lille umsetzt, folgt der gleichen Philosophie, die auch der Arbeit von etika in Luxemburg oder dem Netzwerk Selbsthilfe Saar zugrunde liegt. Es wurde aber auch deutlich, dass man auf der Makroebene letztlich noch nicht viel erreicht hat. „Wir sollten uns nicht verzetteln, uns lieber ein bis zwei klare, übergreifende Ziele und Projekte vornehmen, die wir auch wirklich umsetzen“, sagte APES-Präsident Gérard Déchy in seinem Schlußwort.

Eine 2012 erschienene Studie des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU zum Stand der Sozialökonomie in einzelnen Ländern findet sich hier in deutscher Sprache und hier in französischer Sprache.

Artikel vom 15. Juli 2013