Im Jahr 2011 wurden in Luxemburg 5.209 "problematische Drogenuser" gezählt. Über den verantwortungsvollen Umgang staatlicher Einrichtungen mit Drogenabhängigen wird in Mitteleuropa seit Jahrzehnten gestritten. Konsens herrscht nur darüber, dass es keine staatliche Abgabe von Heroin und anderen „harten“ Drogen in so genannten Fixerstuben, Verkauf über Apotheken oder einen freien Markt geben sollte. Einen freien Markt für „harte“ Drogen fordert heute niemand mehr. Bewährt haben sich allerdings Drogenkonsumräume. Insbesondere konnte durch sie – wie Erfahrungen in Frankfurt/Main schon früh gezeigt haben - die Anzahl der heroinbedingten Todesfälle drastisch reduziert werden.
Gegner sagen allerdings, dass durch die Zulassung und den Betrieb von niederschwelligen Drogenkonsumräumen die früher praktizierte Drogenbekämpfung faktisch aufgegeben wurde. Dadurch würden auch die Gefahren, die vom Drogenkonsum ausgehen, verharmlost. Es sei kontraproduktiv, Konsumenten durch die Einrichtung von Fixerstuben in der Fortsetzung ihres Suchtverhaltens zu bestärken und jungen Menschen den Eindruck zu vermitteln, Drogen seien ungefährlich. Aus Sicht pragmatischer Betreuer geht es dagegen vor allem um Hygiene, ärztliche Betreuung im Falle von Überdosierungen und Überlebenshilfen. Ein Abhängiger höre auch ohne Fixerstuben nicht auf obwohl er weiss dass sein Drogenkonsum lebensgefährlich sein kann.
Desweiteren wurde befürchtet, dass Fixerstuben eine regionale und überregionale Sogwirkung sowohl für Drogenabhängige als auch für Dealer auslösen würden, mit den bekannten Begleiterscheinungen der Beschaffungskriminalität. Ferner wird es als widersprüchlich gesehen, einerseits Besitz und Erwerb von Rauschgift strafrechtlich zu verfolgen, andererseits den Konsum von illegal beschafftem Rauschgift staatlich zu erleichtern und sogar zu schützen. Die Polizei gerate zwischen die Fronten einer in sich widersprüchlichen Gesetzgebung.
In Luxemburg existiert seit Juli 2005 eine durch die Stadt Luxemburg unterstützte Fixerstube mit einer Betreuung durch den Service Tox-In. Die Zielgruppe sind nicht substituierte, volljährige drogenabhängige Menschen mit Konsumerfahrung. Die bisherige Fixerstuff auf staatlichem Grund nahe der Bahnhofsbrücke an der Route de Thionville in Bonnevoie war damals als Provisorium errichtet worden, bis ein
endgültiger Ort – angedacht war ein Gelände in der Rue d’Alsace, in der Luftlinie keine 100 Meter entfernt auf der anderen Seite der Eisenbahngleise – gefunden worden wäre. Man rechnete mit zwei Jahren Wartezeit.
Da sich dies aufgrund von Problemen mit der Klassierung des Grundstücks nicht umsetzen ließ, das provisorische Gebäude jedoch längst stark sanierungsbedürftig war, gab die Stadt der Firma POLYGONE s.àr.l. im Juli
2011 den Auftrag, vor Ort einen Neubau zu errichten. Dieser 1,52 Millionen Euro teure Bau entstand ab September neben dem bisherigen Bau.
Der als modulares Containergebäude in Fertigbauweise konzipierte zweistöckige Bau ist zwar weiterhin nur ein Provisorium, verfügt aber über einen hohen Standard und soll eine bessere Betreuung gewährleisten.
Mit dem Neubau wurde auch der Service Tox-In umbenannt in „Abrigado“, was so viel wie "geschützt" bedeutet. Bislang stand „Abrigado“ für den Tagesdienst, während der Nachtdienst „D’Nuetseil“ heißt. Die Namensänderung bedeutet freilich keine Reduktion des Angebotes.
Das Haus besteht aus drei Einheiten: einem Tagesfoyer mit Kontaktcafé für die täglich rund 400 Besucher/innen, dem
Drogenkonsumraum (Foto ganz oben) und dem Nachtfoyer. Im Erdgeschoss des 1.133 qm großen Gebäudes befinden sich neben dem Injektionsraum mit Spritzentausch und einem 151 qm großen Aufenthaltsraum, einer kontinuierlich in Bereitschaft befindlichen ärztlichen Praxis und sanitären Anlagen unter anderem auch eine zwei Büros, eine Waschküche sowie Lagerräume. In den sieben Räumen im Obergeschoss können 42 Personen übernachten. Ferner befinden sich im Obergeschoss auch Dusch- und Sanitäranlagen, zwei Büros, ein Versammlungsraum, eine Küche und eine Krankenstation.
Als Fortschritt zu werten ist, dass der Konsumraum mit seinen acht Plätzen jetzt einen abgetrennten Bereich mit Entlüftungssystem umfasst, in dem auch das Inhalieren von Kokain und anderen Drogen möglich ist. Um in Spitzenzeiten den Andrang zu regeln, haben die Drogenabhängigen eine Nummer zu ziehen und zu warten, bis sie an der Reihe sind.
Technisch gesehen ist der Bau sehr gut gedämmt und erreicht hohe Werte in Bezug auf die Energieeffizienz. Vor allem aber können die 62 Metallmodule abmontiert und an einem anderen Ort neu errichtet werden, auch eventuell in einer neuen Nutzung. Nach Fertigstellung und Einweihung des Neubaus am 4. Februar 2012 durch Bürgermeister Xavier Bettel und Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo (Foto) wurde der bisherige Containerkomplex abgerissen.
POLYGONE, als Eigentümer des Baus, hat mit der Stadt einen Mietvertrag über zunächst fünf Jahre abgeschlossen. Für den Neubau hat POLYGONE im Februar 2012 bei etika und Spuerkeess einen Investitionskredit in Höhe von 1,3 Millionen Euro bei einer Laufzeit von fünf Jahren beantragt und im März erhalten. POLYGONE hat bereits in früheren Jahren Kredite von etika erhalten (Infos dazu hier).
Das Abrigado war zunächst für eine Zeitdauer von vorerst fünf Jahren an den Betreiber der Fixerstuff vermietet, das "Comité national de la défense sociale" (CNDS), doch wurde dieser verlängert. Seitens des CNDS wird bedauert, dass das Haus nicht rund um die Uhr geöffnet werden kann, sondern sonntags, montags und dienstags (nur) von 13 - 20 Uhr und mittwochs, donnerstags, freitags von 8 - 15 Uhr geöffnet und samstags geschlossen. Obwohl hier mittlerweile ein dreißigköpfiges multidisziplinäres Team aus Psychologen, Sozialpädagogen, Erziehern, Krankenpflegern und Soziologen arbeitet, reicht das Personal nicht für eine 24-Stunden-Betreuung aus.
Im Haus herrscht ein striktes Verbot für den Handel von Drogen. Damit wird das Problem, das viele Heroinabhängige ihren Konsum dadurch finanzieren, dass sie an andere Konsumenten verkaufen, freilich nur verlagert. Handel und Konsum sind kaum zu trennen solange Heroin nicht kontrolliert an Abhängige abgegeben wird, wie es in der Schweiz geschieht. Aber das wird in Luxemburg zur Zeit nicht debattiert.
Die Verantwortlichen von POLYGONE hatten aufgrund der eingangs genannten kontroversen Ansichten allerdings zunächst gezögert, bei etika einen zinsreduzierten Kredit zu beantragen. Seitens des etika-Kreditkomittées bestanden jedoch keine Zweifel am besonderen sozialen und gesundheitlichen Wert der Einrichtung. Die Überschrift „etika finanziert Neubau des Abrigado“ wäre also eine begrüssenswerte Schlagzeile.
Nachtrag im März 2013: In einer Sitzung des Gemeinderats der Stadt Anfang März wurde entschieden, dass aus der momentan provisorischen Struktur eine permanente werden soll: Dazu sollen in der rue d’Alsace bislang als "zone aménagée" klassierte Grundstücke künftig als Areale "d’intérêt public" zur Verfügung und eine Baugenehmigung erteilt werden, berichtete das Journal (05.03.13).
Nachtrag im Januar 2014: In dem am 20.12.2013 veröffentlichten Nationalen Drogenbericht heisst es nach Angaben des Wort (21.12.13); "Es steht ausser Frage, dass seit der Einrichtung der Fixerstube die Zahl derjenigen, die an den Folgen einer Überdosis gestorben sind, deutlich zurückgegangen ist. 1400 Überdosis-Fälle wurden in den vergangenen Jahren in der Fixerstube behandelt. die meisten davon hätten tödlich geendet, hätte nicht schnell professionelle Hilfe zur Verfügung gestanden."
Im Februar 2015 wurden weitere Zahlen veröffentlicht: 1.500 Drogenabhängige haben seit 2005 die Fixerstube besucht (insgesamt 260.000 Besuche, allein in 2014 waren es 40.000. Im Jahr 2014 wurden 230 Überdosierungen behandelt, die sonst zum Grossteil tödlich ausgegangen wären, so L’essentiel am 04.03.2015.
Auch der Nationale Drogenbericht 2016, dass noch nie so wenig Schwerstabhängige an einer Überdosis gestorben sind, wie im vergangenen Jahr: Die Zahl 5 ist ein historischer Tiefststand. Im Wort vom 09.02.2017 heisst es: "Der Hauptgrund für diesen Rückgang ist in der Ausrichtung der nationalen Drogenpolitik zu suchen, die im Umgang mit Schwerstabhängigen längst nicht mehr nur auf Repression, sondern auf Schadensbegrenzung, Betreuung und die kontrollierte Freigabe von Substitutionsprodukten oder Heroin setzt. Die so genannte "Fixerstuff" und zahlreiche andere Programme und Institutionen im Umfeld der Drogenkranken sind ein Erfolgsmodell, wie die Statistiken beweisen."
Das Abrigado blieb auch zu Zeiten der Pandemie geöffnet. Im März 2021 kamen täglich zwischen 180 und 190 Personen, davon etwa 20 % Frauen. Es wird überlegt, für sie eine eigene Struktur aufzubauen. Jährlich werden etwa 300 000 bis 350 000 Spritzen verteilt und wieder entsorgt. Neben Heroin (etwa 50 % des Konsums) ist Kokain (etwa 30 %) immer bedeutender geworden. So wurde neben einem "Druckraum" vor einigen Jahren auch ein "Blowraum" eingerichtet.
Neben sterilem Material, medizinischen Untersuchungen und Behandlungen bietet das Abrigado auch Zukunftsperspektiven. Die Drogenabhängigen haben alles in ihrem Leben verloren: Wohnung, Beruf, Familie und das Anrecht auf Krankenversicherung. Die insgesamt 50 Mitarbeiter versuchen in Gesprächen eine Lösung zu finden bzw. eine Perspektive über das Substituierungsprogramm hinaus, erklärt Ingo Könen, der Leiter des Pflegebereichs gegenüber dem Wort (15. April 2021).
Kontakt:
POLYGONE, André Reuter, 37, rue de la Gare, L-7535 Mersch, Tel.: 49 20 05-1, info@polygone.lu, www.polygone.lu, Homepage des Abrigado
Mehr zum Projekt: Artikel in der Woxx vom 2.2.12 und Artikel zum ersten Jahresbericht des Tox-In von 2006 sowie im Luxemburger Wort vom 11. Juni 2016 (zur Lektüre klicken sie bitte auf das Foto rechts). Mehr zur aktuell problematischen Situation rund um das Abrigado: Tageblatt vom 25. Juli 2020 und Le quotidien vom 19. März 2021.
Fotos: Christiane Walerich (bis auf die Außenansicht)
Artikel vom 5. Dezember 2012, letzte Aktualisierung am 23. April 2021