Raymond Wagener: „Da bin ich ein bisschen stolz drauf …“

, von Ekkehart Schmidt

INTERVIEW




















Die Mitglieder unseres Verwaltungsrates und des Kreditkomitees haben alle eine eher ungewöhnliche Lebensgeschichte, die sie zu einem gemeinwohlorientierten Engagement führte. Raymond Wagener (Jg. 1949) ist da keine Ausnahme. Und doch ist eine solche Biografie bei dem bedacht und zurückhaltend auftretenden langjährigen Mitglied des Kreditkomitees, ursprünglich vor allem zuständig für die Beurteilung entwicklungspolitischer Kreditanträge, schon etwas besonders Bemerkenswertes. Denn: In die Wiege gelegt wurde ihm das Denken in Nord-Süd-Zusammenhängen ganz und gar nicht. Ekkehart Schmidt hat mit ihm gesprochen.

Bist du eigentlich ein Kind vom Lande oder aus der Stadt?
Eindeutig vom Land, aus dem Oesling.

Woher genau?
Aus Beessleck, das ist ganz im Norden, nahe der Grenze zu Belgien.

Oh, das habe ich noch nie gehört …
Das ist auch wirklich klein, hat aber dafür drei oder vier Namen: auf Luxemburgisch eigentlich Beesslek, auf Französisch Hautbellain und auf Deutsch Oberbesslingen. Es gibt sogar einen lateinischen Namen: Belsonacum, da die frühere Römerstraße von Reims nach Köln hier vorbeikam! Und natürlich gibt es ein Pendant, nicht weit entfernt: Basbellain und Niederbesslingen.

Was hat dein Vater gemacht?
Er war da Lehrer an der Grundschule im Dorf.

In welcher Sprache bist du aufgewachsen?
Wir haben Luxemburgisch gesprochen. Allerdings ist meine Familie zweisprachig, da meine Großmutter aus Wallonien kam. Es gab enge Familienbindungen über die Grenze. Immer wenn die Tanten, Onkel oder Cousinen aus Belgien vorbeikamen, sprachen wir Französisch.

Und wie ging es nach der Grundschule weiter?

Ich war auf dem Gymnasium und im Internat in Diekirch. Da eine meiner Cousinen aus dem belgischen Nachbardorf Limerlé schon an der Université catholique de Louvain (UCL) studierte, ging ich auch an die UCL.

Was hast du studiert?
Mathematik. Das hatte mich schon immer interessiert. Und die ersten Semester waren die gleichen wie für Ingenieure und Physiker. So konnte man den weiteren Weg auch erst einmal offenhalten.

Ich dachte, du hast als Sozialforscher gearbeitet? Wie war dann der Werdegang?

Ja, das kam später. 1969 bis 1973 habe ich Mathematik studiert, das letzte Jahr in Louvain-la-Neuve. Mit der belgischen Licence bin ich nach Paris und habe 1974 mein Diplôme d’études approfondies gemacht. Dann bekam ich einen Assistenzposten an der Université de Mons-Hainaut und habe mein Doktorat vorbereitet, unter der Leitung meines Doktorvaters Michel Zisman von der Universität Paris VII. 1978 bin ich dann noch als Postdoc nach Cambridge.

Und von Cambridge bist du dann nach Luxemburg zurück?
Ja, in die Stadt. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich dort lebte! Ich hatte keinen Bezug zur Stadt, schon gar nicht mit Leuten in meinem Alter. Es gab nur Verwandte in Mamer.
Wo hast du dann gearbeitet? Ging es gleich in die Sozialforschung?
Ja, ziemlich schnell. Ich war 23 Jahre beim IGSS, also der Inspection générale de la sécurité sociale Luxembourg.

Was genau sind deren Aufgaben?
Wir haben gesetzliche und verordnungsrechtliche Maßnahmen in Sachen Sozialversicherung ausgearbeitet. Das erste Jahr war schrecklich … Aber schon im zweiten Jahr konnte ich den ersten Mikrocomputer nutzen. Dadurch wurde die Arbeit erst interessant. Es gab auch die ersten Excel-Sheets – aber das hieß damals anders, Anfang der 80er-Jahre. Der Inhalt meiner Arbeit hat sich dann oft geändert. Ich war an vielen Gesetzen beteiligt, einer Rentenreform und einer Reform der Krankenhausfinanzierung – Letzteres mit einem System, das heute noch besteht. Die Krankenhäuser waren damals immer im Defizit.

Brauchte man dazu mathematisches Wissen?
Nein, eher konzeptionelles Denken. Aber natürlich half mein Hintergrund bei der Erstellung von Analysen und Studien zur Bewertung und Planung von Systemen zur sozialen Absicherung. Nicht nur in Luxemburg, auch auf internationaler Ebene.

Von 1992 bis 1997 warst du Projektleiter eines entwicklungspolitischen Projekts zur Computerisierung des Sozialversicherungssystems von Kap Verde. Wie kam es zu diesem Engagement?
Es war so etwa 1991, als Mady Delvaux-Stehres Gesundheitsministerin war: Da war sie wegen eines bilateralen Abkommens dort, und die fragten, ob wir bei der Informatisierung der Sozialversicherung helfen könnten. So bin ich dann zwei- bis dreimal im Jahr für jeweils zwei bis drei Wochen auf die Inseln geflogen. Die waren gut organisiert, da müssen ihnen die Portugiesen geholfen haben, aber alles lief per Hand, in Papierdateien! So etwas erleichtert die Umstellung auf Computer. Das war beeindruckend, dass das so gut funktionierte. Später war ich auch noch mal wegen eines Projektes mit der ILO dort. Und die ASTM unterstützte dort damals ein Frauenzentrum auf der Insel Santo Antão.

Woher kam dieser Blick auf weltweite Themen?

Der allererste Kontakt zu diesen Themen entstand über zwei meiner belgischen Onkel, die als Jesuitenpater im Kongo arbeiteten. In Löwen und Louvain-la-Neuve lernte ich chilenische Flüchtlinge kennen. Kurz vor dem Referendum von Pinochet, Anfang der 80er-Jahre, das er dann verlor, wollte ich meine Ferien in Chile verbringen und fragte einen früheren Flüchtling, der inzwischen wieder in Chile lebte, ob er mir einige Kontakte besorgen könnte. Er schickte mir eine Riesenliste mit Kontakten für zwei bis drei Wochen, die ich besuchen konnte: Gewerkschaftler, Minenarbeiter, indigene Gruppen wie die Mapuche, Stadtviertelgruppen – von Valparaiso bis Puerto Monte und der Insel Chiloe im Süden. Die Mapuche sind an sich ja Viehzüchter und Bauern. Da hatte ich den Eindruck: Die verstehe ich eher als die Minenarbeiter. Ich war erstaunt, wie sehr ich doch das Denken und Fühlen meiner landwirtschaftlichen Ahnen internalisiert hatte. Ich kam zurück und hatte eine ganze Reihe von Projektideen, die ich dann bei der ASTM untergebracht habe. Mein Eindruck bei den Mapuche war: Alte Technologien wie der Pflug oder Handpumpen sind dort oft besser angepasst als moderne.

Bist du auch danach viel gereist?
Ja, immer wieder. Solche Reisen waren sozusagen meine Sommerferien.

Du sprichst Spanisch? Woher kanntest du die Sprache?
Ja, ich spreche es fließend. Obwohl ich nie Sprachkurse besucht habe. Ich war nur ab und an im Sprachlabor. Aber klar: Mein Französisch war eine gute Basis. Ich habe das über die Musik gelernt, die ersten Sätze vor allem über den uruguayischen Liedermacher Daniel Viglietti, der auch einmal in Luxemburg war und 2017 gestorben ist. Vor allem hatte ich in Cambridge viele Kontakte zu Latinos und lernte, fließend zu sprechen.

Wie kamst du in Kontakt zur ASTM?
Es gab damals in Luxemburg eine Szene engagierter junger Leute, mit denen ich in Kontakt kam. Darunter waren viele, die sich für die Rechte von Migranten einsetzten und später die ASTI gründeten, wie Serge Kollwelter. Anfangs auch Jesuiten. Man kannte sich einfach in der Szene. Zum Beispiel Pir Schmit, der ja heute noch im etika-Verwaltungsrat aktiv ist. Ich war zwar bei der Gründung der ASTM 1973 nicht hier, wurde dann aber bald Mitglied. Ich war damals im April nach der Nelkenrevolution zu einer Studienreise in Portugal. Ich erinnere mich noch, dass es zur Orangenzeit war. Es war so organisiert, dass wir alle wichtigen Leute trafen, auch Mário Soares.

Wenn man deinen Namen googelt, findet man Forschungsarbeiten zu so unterschiedlichen Themen wie Soziale Sicherheit in Europa, Überlegungen zu einer Steuerreform, Gesundheitstechnologiebewertung in Luxemburg oder Berechnungen zur Covid-Resilienz.
Ich war halt sehr lange, von 1992 bis 2010, Leiter der Abteilung für versicherungsmathematische Studien und Sozialplanung. Es ging da um alle Fragen, die mit Gesundheit und sozialer Sicherung zu tun haben. Später war ich auch Leiter der Abteilung für Informatik, aber als das richtig groß wurde, habe ich es wieder abgegeben.

Ein Titel deiner Studien hat mich besonders beeindruckt: „Cross-validating administrative and survey datasets through microsimulation and the assessment of a tax reform in Luxembourg“.
Da ging es um den statistischen Zugang zu Verwaltungs- und Umfragedaten und dem Benutzen dieser Daten für Studien, insbesondere für Studien des LISER (Luxembourg Institute for Social and Economic Research). Wir hatten bei der IGSS ja viele Kontakte, auch international, zu Eurostat oder OECD, unter anderem, wenn es um Systeme von Gesundheitsberechnungen ging. Gesundheitsangaben sollten nach einer einheitlichen Methode statistisch erfasst werden.

Du hast beim Forschungsinstitut CEPS gearbeitet?
Im März 2012 wurde ich von der Regierung in den Verwaltungsrat des CEPS (Centre d’études de populations, de pauvreté et de politiques socio-économiques) berufen und zu dessen Vorsitzendem bestimmt. Ich hatte vorher schon lange Kontakte zu ihnen, es ging um die Software SPSS. Das Institut hatte damals Schwierigkeiten, sich nach dem Entstehen der Universität 2003 neu auszurichten. Es bestand seit mehreren Jahrzehnten. Gründer war Gaston Schaber. Man sah sich als primäres Standbein der Sozialforschung in Luxemburg. Diese Auffassung wurde nun natürlich in Frage gestellt. Schaber sah uns auch als Beratungsinstitution für die Regierung. Als das Institut zum CEPS/INSTEAD umgewandelt wurde, übernahm ich auch die Funktion des Direktors, die ich dann später an den neu berufenen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Hilmar Schneider abgab. Das Institut CEPS wurde dann 2014 durch das LISER (Luxembourg Institute of Socio-Economic Research) ersetzt.

2015 bist du in Rente gegangen, hast aber als freier Mitarbeiter für das International Labour Office (ILO) in Genf gearbeitet. Womit hast du dich da beschäftigt?
Ich habe verschiedene Arbeiten über Sozialversicherungen für die gemacht, und es gab wegen der Initiative von Michael Cichon von der ILO einige Projekte in Afrika: die Einführung eines Krankenversicherungssystems in Ghana zum Beispiel. Wir waren auch in Namibia aktiv. Später ging es auch darum, das Rentenversicherungssystem in Äthiopien zu verbessern.

Und du bist als Pensionär in einigen Verwaltungsräten.
Seit 2000 bei der ASTM, ab 2004 auch ein paar Jahre bei Lux Development – da bin ich jetzt noch im Prüfungskomitee. Und von 2015 bis 2019 auch beim LISER.

Erinnerst du dich noch an deinen ersten Kontakt zu etika?
Das war, als bei der ASTM gefragt wurde, wer uns im Kreditkomitee vertreten soll. Die Aufgabe übernahm ich dann, weil ich mich schon länger für die Finanzierung von Sozialdiensten interessiert hatte.

War das gleich zu Anfang, beim Aufbau unseres alternativen Spar- und Kreditmechanismus?
Ja, so etwa 1997. Jedenfalls hatte ich keinen Vorgänger.

Was hat dich an der nachhaltigen Finanz interessiert?
Ehrlich gesagt hatte ich da noch gar keinen Zugang dazu. Es interessierte mich aber schon.

Was gefällt dir an deiner Aufgabe im Kreditkomitee?
Das ist eine Welt, die ich nicht kenne. Heute sind ja entwicklungspolitische Projekte ganz nebensächlich geworden. Ich muss mir jetzt Gedanken über ganz andere Themen machen.
Ja, seitdem es eine staatliche Förderung dieses Bereichs gibt, werden kaum noch Kredite benötigt. Heute dominieren Kredite an die Bio-Landwirtschaft oder Wohnprojekte. Hast du noch andere ähnliche Funktionen?
Ich bin noch beim „Ronnen Dësch“, einer „Geheimorganisation“, wo sich die Organisationen und Institutionen austauschen können, die sich mit Flüchtlingsfragen beschäftigen.

Erklär das bitte!
Wir sind eine Bürgerinitiative, ein Konstrukt, gegründet von Serge Kollwelter. Wir machen regelmäßige Sitzungen zum Thema Immigration. Da kommen NGOs, Vertreter von Ministerien und Gemeinden zusammen. Es gibt da einen guten Austausch, zum Beispiel als die Ukrainer kamen. Da fragen wir dann nach, wo es hapert, welche Unterstützung noch nötig ist, und stellen auch rechtliche Forderungen.

Welche Aufgabe oder welches Erlebnis hat dich am meisten beeindruckt, und warum?
Dass ich die Möglichkeit hatte, dieses Projekt auf den Kapverden zu machen, ihnen zu helfen. Das war ursprünglich ein Projekt von Lux-Dev, das aber ursprünglich auf drei Jahre beschränkt bleiben sollte, was Quatsch ist. Die wollten das nach drei Jahren mittendrin stoppen. Ich durfte dann meine ganzen Weihnachtsferien verwenden, um für das Kooperationsministerium einen Bericht zu schreiben und zu begründen, warum das weitergeführt werden soll. Die Lösung war eine luxemburgische NGO mit Projekten in Cabo Verde, die das Finanzmanagement machte, also die Aufgabe weiterleitete. Das war ein schöner Erfolg!

Welche Pläne hast du für die Zukunft?
Ich weiß es einfach nicht. Falls die ASTM mich im Kreditkomitee einmal ersetzen will, sage ich natürlich Ja.

Nach gut 28 Jahren.
Ich möchte auch noch einmal ein sinnvolles Forschungsprojekt machen, vielleicht beim LISER, aber da muss ich noch ein bisschen nachdenken. Da läuft etwas zu den Konsequenzen von Covid auf das Einkommen der Grenzgänger im Vergleich zu den Leuten in Luxemburg. Aber was ich da machen soll, ist nicht so spannend. Ich war in letzter Zeit vor allem mit meiner Gesundheit beschäftigt. Da muss ich etwas aufpassen.

Wir wünschen dir jedenfalls weiterhin viel Kraft! Herzlichen Dank für das Gespräch!

Artikel vom 18. Juni 2025