Jean-Sébastian Zippert verlässt etika
Etika ist ein nicht-hierarchisch organisierter Verein. Und dennoch war da immer einer, der inhaltlich – oft deutlich früher als viele andere am Finanzplatz und in der Zivilgesellschaft – die Richtung vorgab. Sehr belesen, immer auf dem neuesten Stand kritischer Meinungen und dazu von einer Überzeugung und intelligenten Militanz getragen, die seinesgleichen suchte. Nach 17 Jahren als etika-Koordinator macht er nun ein „Sabbatical“, um eine Arbeit zu finden, die ohne Computer auskommt. Vielleicht Bio-Bäcker. Es ist der zweite radikale Kurswechsel seiner Karriere.
Jean-Sébastian Zippert begann seine Tätigkeit als Koordinator bei etika im Juli 2002 als Nachfolger von Laure Belin (1997-1998), Thomas Dahm (1998-1999) und Barbara Gemnich (1999-2003). Zu den Aufgaben gehörten insbesondere die Vergabe von Krediten in Abstimmung zwischen dem Kooperationspartner Spuerkeess und dem etika-Kreditkomittée, die Sitzungen des Verwaltungsrates und die Mitgliederversammlung sowie andere administrative Auf-gaben. Bis zur Einstellung eines ersten Beauftragten für die Öffentlichkeitsarbeit 2006 gehörte auch diese zu seinen Aufgaben.
1973 im Elsass geboren und aufgewachsen, begann er 1991 ein Informatikstudium in Mulhouse und arbeitete nach dem Diplom bei einem Finanzinformations-Dienstleister in Paris. 1999 wechselte er an die luxemburgische Filiale der Firma. Allmählich wurde ihm jedoch klar, dass er in dem Beruf nicht glücklich werden wird. In einem Interview für etikaINFO (Nr. 54 vom Oktober 2017) sagt er, dass die Tätigkeit für seine geistige Gesundheit problematisch gewor-den sei, weil er sich zugleich als Aktivist bei ATTAC engagierte.
Im Jahr 2000 wurde ihm klar, dass er nicht ein Gehalt aus der Finanzindustrie beziehen und diese zugleich in seiner freien Zeit substanziell kritisieren kann.Es war vor allem die erste ATTAC-Sommeruniversität im Jahr 2000 in Frankreich, auf der er die Überzeugung gewann, „dass der Finanzkapitalismus, wie er heute funktioniert, weder ein lebensfähiges, noch wünschenswertes System ist, insbesondere mit Blick auf die Län-der des globalen Südens, in denen es Ungleichheiten verschärft“. Vor allem aber hatte er verstanden, dass die Finanzindustrie Produktionsmethoden bevorzugt, die aufgrund der Fixierung auf kurzfristige Renditen verheerend für Umwelt und Klima sind.
Daher sah er sich durch diese Einsichten zur Aufgabe berufen, sich bei der Entwicklung konkreter Alternati-ven zu engagieren, bei denen Banken und Finanzinstrumente wieder vorrangig den Bedürfnissen des Gemeinwohls dienen. Diesen Zweiklang der Ziele fand er bei etika: Einerseits mit dem Alternativen Sparkonto ein Produkt aufzubauen, das strenge ökologische und soziale Kriterien respektiert und anderer-seits öffentlichkeitswirksame Sensibilisierungs-arbeit zu betreiben, bei der Funktionsstörungen und Auswüchse des Finanzkapitalismus offen-gelegt werden.
In Kontakt zur Sozialfinanz und Akteuren der Zivilgesellschaft war er durch die Eröffnung eines Bankkontos bei La Nef und die Aktivitäten von ATTAC gekommen, die in Luxemburg regelmäßig mit anderen politisch engagierten Vereinen zusammenarbeitet.Er konzentrierte sich zunächst auf die Verwaltung und Perfektionierung der Funktions-weise des alternativen Spar- und Kreditmechanismus, begann dann aber „petit à petit“ mit der Organisation von Sensibilisierungsveranstaltungen, die über das Bewerben des Sparkontos hinaus gingen.
Im März 2004 organisierte er mit Marc Elvinger eine öffentliche Debatte „Quelle place pour l’action politique dans la promotion des finances éthiques et solidaires ?“. Es dauerte aber noch gut fünf Jahre, bis etika nach einem internen Klärungsprozess zwischen den Polen „zurückhaltender“ und „vehementer“ Positionierung begann, diese Frage zu beantworten - indem nicht mehr nur punktuell, sondern kontinuierlich Sensibilisierungsveranstaltungen durchgeführt wurden.
So wurden seit Januar 2012 im Rahmen der Reihe „Le Monde en doc“ gut 70 Filme in der Cinémathèque gezeigt, die zumeist als Erstaufführungen dokumentier-ten, was wie global falsch läuft. Parallel hat er unter dem Titel „finance citoyenne“ eine Fortbildungsreihe konzipiert und umgesetzt sowie diese oftmals komplizierten Themen in amüsanter Weise über zwei Dutzend Male als Quiz „Qui veut gagner en vision“ dem Publikum nahegebracht.Etika wurde immer sichtbarer nicht nur als Sparkonto-Partner der Spuerkeess, sondern auch und unabhängig davon als ernst zu nehmende und freie Stimme in der demokrati-schen Debatte über die zentrale Stellung und Einflussnahme des Finanzplatzes auf unser Leben.
Zu seinen Verdiensten gehört auch, dass etika im Gegensatz zu anderen Akteuren, die gerne Begrifflichkeiten wie „grüne“ oder „sozial verantwortliche Finanz“ nutzen, es damit ernst meinte, Werte wie Transparenz und Solidarität in konkrete Projekte der hiesigen Wirtschaft einzubringen. Nach ersten Einladungen von Rednern im Sommer 2013, in der Mittagspause etwa ein-stündige Impulsreferate zu halten, deren Thesen dann debattiert wurden, hat Jean-Sébastian daraus ein eigenes Format gemacht: Buchautor*innen oder Universitätsprofessor*innen aus Frankreich, Belgien oder Deutschland sprechen im Centre Altrimenti, während die meist etwa 25 bis 35 Zuhörer*innen ein kostenloses Sandwich essen und dazu ein Glas Saft oder Sprudel trinken, ehe sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
Inhaltlich ging es einerseits darum, problematische Entwicklungen der Wirtschaft und insbesondere des Finanzsektors fachkundig aufzuzeigen, damit sich Interessierte eine Meinung bilden können, andererseits aber auch Alternativen für einen verant-wortlichen Umgang mit Geld aufzuzeigen. Dahinter steht unsere Überzeugung, dass Personen und Institutionen, die über Kapital verfügen, auch eine Verantwortung für die Folgen der Nutzung dieses Kapitals haben. In den vergangenen sieben Jahren haben wir 50 solcher Veranstaltungen durchgeführt.
In der Regel haben die Medien mit Interviews oder längeren Vorankündigungen über die Inhalte der Veranstaltungen berichtet. Alle Veranstaltungen wurden auf Video aufge-zeichnet und können auf unserer Webseite angeschaut werden. Jean-Sébastian hat in die Recherche zu neuen Erkenntnissen und die Organisation solcher Veranstaltungen viel Herzblut, Energie und Konzentration eingebracht. Entscheidend war wohl, wie es seine Vorgängerin Laure Belin ausdrückte, dass er sein Thema – der Sinn des Geldes und die Rolle der Banken - wirklich kannte und beherrschte: „Il va jusqu`au bout, avec une force intellectuelle qui va très loin dans les détails, et il est capable de mettre tout en question dans une manière pertinent“.
Von der Überzeugung getragen, mutig und kohä-rent dem nach wie vor dominant renditeorientierten Finanzplatzes den Spiegel vorzuhal-ten, hat er einen oft einsamen Kampf geführt. Jetzt möchte er versuchen, manuell und ana-log zu einer besseren Welt beizutragen und dabei weniger kopflastig zu arbeiten. Oder auch in ein „besseres Gleichgewicht zwischen Körper und Geist“ zu kommen, wie es Laure Belin ausdrückt. Etika verlor im November mit Jean-Sébastian Zippert die - nicht nur durch seine kontinuierliche Politisierung unseres Vereins - wohl prägendste Figur seiner Geschichte.
Zunächst übernimmt Alexander Feldmann die Funktion des Koordinators. Noch nicht als neuer Kapitän, sondern als Steuermann, der neue Erkenntnisse und Sichtweisen einbringt und den Blick auf ökonomische Gesamtzusammenhänge weitet. Welche Person mit welchem Profil Jean-Sébastian nachfolgt oder das Team ergänzt, wird sich im Zuge einer – von seinem Weggang unabhängig begonnenen – Neudefinition der Ausrichtung unserer Arbeit entscheiden. Bei dieser geht es vor allem um die Entwicklung neuer Produkte.
Fotos: Maison Moderne
Artikel aus etikaINFO 63, erschienen im September 2020