Der Glaube der Wirtschaftswissenschaft und seine Konsequenzen

, von Ekkehart Schmidt

Wissenschaften waren schon immer ein umkämpftes Feld widerstreitender Interessen, Strömungen und Ideologien. Man denke dabei nur an die großen weltanschaulichen Revolutionen der kopernikanischen Wende oder des Darwinismus. Selten war es reiner Zufall, was beforscht, entdeckt oder erwiesen wurde. Meist sorgten auch bestimmte Interessen, technische Möglichkeiten oder politische Agenden für das Weiterkommen oder Festhalten an Theorie(n) in einem Forschungsgebiet. So geht auch heute noch der Zweck, also das was gefunden oder bewiesen werden soll, häufig seinem Gegenstand voraus. Zu wenig findet eine kritische Distanz zur eigenen Disziplin mittels der Philosophie(n) statt, die immerhin die Mutter unserer Wissenschaftslandschaft ist.

Was für viele Disziplinen im Allgemeinen gilt, ist in der Wirtschaftswissenschaft von besonders drastischem Ausmaß. Aus diesem Grund steht hier Wirtschaftswissenschaft konsequent im Singular. Denn die Ökonomik ruht heute immer noch auf einem Annahme- und Theorieset, das sich zwar danach weiter verzweigt, jedoch die Grundbedingung des Denkens über Wirtschaft darstellt. Es handelt sich im Wesentlichen um die allgemeine Gleichgewichtstheorie und die Lehre vom Grenznutzen. Dies sind die Grundzüge der Neoklassik als Denkschule, oder der Mainstream Ökonomie. Mainstreamökonomen werden auch als orthodox bezeichnet – das bedeutet rechtgläubig, im Gegensatz zu den Heterodoxen den Andersgläubigen. Verwunderlich, eigentlich, dass nicht mehr über diese geläufigen Bezeichnungen nachgedacht wird.

Homo Oeconomicus

Im 19. Jahrhundert verstand sich die Ökonomik als „politische Ökonomie“, also explizit als eine normative Wissenschaft. In Anlehnung an die Naturwissenschaften, die als deskriptive Wissenschaften gelten, ist es Ökonomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen, durch eine Mathematisierung ihrer Methoden und Entlehnungen aus der Physik ihre Disziplin in den Rang einer präzisen und harten Wissenschaft zu erheben. Ein Paradigmenwechsel der sich als folgenschwer für unser Zusammenleben herausgestellt hat.

Als Sozialwissenschaft wirken Forschung und Forschungsergebnisse der Ökonomik stets direkt und indirekt auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. So schön es vielleicht auch wäre: Es ist nicht möglich den Erkenntnisgegenstand, den Menschen als wirtschaftlichen Akteur, neutral und objektiv zu erforschen. Denn auch Wirtschaftswissenschaftler sind Menschen und haben einen gewissen Erfahrungs- und Erkenntnishorizont, von dem sie stets nur bedingt Abstand nehmen können. Was in der Ökonomie in eleganten Formeln verklausuliert verstanden oder bewiesen sein soll, beruht auf Annahmen, sonst wäre es reine Mathematik und damit qua Definition inhaltslos. Diese Annahmen jedoch sind problematisch.

Die Standard-Modelle kommen beispielsweise, nicht ohne die Annahme des sogenannten Homo Oeconomicus aus. Ein kühl-berechnender Agent, der all sein Handeln nach Kosten-Nutzen ausrichtet, ohne jegliche Moral. Doch wie damit umgehen, dass die Ergebnisse solcher Modelle oft politische Entscheidungen beeinflussen?

Heute sehen wir eine globalisierte, kommodifizierte, finanzialisierte und damit ökonomisierte Welt. Nur wenige Bereiche bleiben vor Effizienzanalysen, Kostendruck, Optimierungszwang und Wettbewerbsatmosphäre verschont. Bekannte Probleme wie Ungleichverteilung, Prekarisierung der Arbeit, Entsolidarisierung, hohe Managerboni, oder schlechte Bezahlung für Pflegeberufe – sind auch logische Konsequenzen des orthodoxen Theorie- und Annahmesets.

Chicago School of Economics

Der heutige Zustand hat auch mit dem starken Einfluss von Gary S. Becker und der „Chicago School of Economics“ zu tun. Mit seinem Text „The Economic Approach to Human Behaviour“ von 1976 legte er dar, dass man sogar Liebesbeziehungen, Rassismus oder den Tod Kosten-Nutzen-mäßig betrachten und erklären kann. Hierfür erhielt er den Alfred Nobel Gedächtnispreis für Wirtschaft, womit er einer von 24 Ökonomen dieser Schule ist - von insgesamt 50, darunter nur eine Frau - die mit diesem Preis bedacht wurden. Orthodox zu sein erscheint als Grundbedingung, um die höchste Auszeichnung für „wertvolle“ wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten zu bekommen.

Wie keine andere Denkschule haben die Preisträger aus Chicago die Lehre und „den Stand der Wissenschaft“ in der Ökonomik über die letzten 60 Jahre geprägt. Sie steht insbesondere dafür, dass der freie Markt das effizienteste Mittel zur Ressourcenallokation und Einkommensverteilung. Der Staat soll kein wirtschaftlicher Akteur sein und sich lediglich auf Grundfunktionen wie die Sicherstellung des Privateigentums beschränken. Die dominante Metapher der „unsichtbaren Hand“, welche Märkte und Menschen wie von selbst reguliert, zieht auf und markiert den Anbeginn des neoliberalen Zeitalters.

Das Theoriegebäude der Neoklassik wird hauptsächlich durch Lehrbücher verbreitet und reproduziert, sowie durch den „Erfolg“ der ökonomischen Betrachtungsweise aller Lebensbereiche. Der berühmte Ausspruch des US-amerikanischen Ökonomen und Lehrbuchautors Paul A. Samuelson (ebenfalls Chicago Schule und Preisträger), „Es ist mir egal, wer die Gesetze einer Nation schreibt – solange ich ihre Volkswirtschaftslehrbücher schreiben kann!“, gilt daher bis heute als symptomatisch für den gewachsenen gesellschaftlichen Einfluss von Ökonomen und ihren wissenschaftlichen Konzepten. Sein 1948 erstmals erschienenes Lehrbuch belegt über 19 Auflagen hinweg die Vereinheitlichung der volkswirtschaftlichen Lehre. Das Buch wurde in 41 Sprachen übersetzt.

Nach Thomas S. Kuhn, Physiker und Wissenschaftsphilosoph, ist die heutige Ökonomie, wohlbemerkt schon sehr lange, eine Normalwissenschaft. Charakteristisch für eine solche sei demnach die Akzeptanz eines Paradigmas durch eine wissenschaftliche Gemeinschaft, auf dessen Basis Forschung betrieben wird. Durch die damit einhergehende Perspektivverengung wird einerseits der Bereich relevanter Probleme drastisch eingeschränkt, andererseits jedoch nach dem Setzen bestimmter Grundannahmen die Möglichkeit eröffnet, tiefer gehende Forschung zu betreiben. Stellen sich neue wissenschaftliche Erkenntisse als inkohärent mit bestehenden Paradigmen heraus, wird es notwendig, diese zu hinterfragen. Alle größeren wirtschaftswissenschaftlichen „Entdeckungen“ der letzten Jahrzehnte haben nicht dazu geführt, das Paradigma zu hinterfragen. Die einzige logische Erklärung: Der Glaube an die Richtigkeit sitzt so tief, dass er nicht mehr reflektiert wird. Widersprüche wurden eingefriedet, verschwiegen oder vereinnahmt.

Wenn unsere Wirtschaftsordnung für die gravierendsten globalen Probleme verantwortlich ist, warum ist die Ökonomik als Wissenschaft, die danach fragt, was sein soll (normativ), nicht in der Lage, ihre Modelle und Theorien so zu schreiben, dass dem Wohl der Menschen besser gedient ist?

Kritik am Mainstream

Bisher haben die immer wieder aufschlagenden Wellen der Kritik hinsichtlich Einseitigkeit und paradigmatischer Verengung, den Mainstream im Kern unangetastet gelassen. Schon lange gibt es kritische Bewegungen, von Professoren und Studenten, welche die Lehre kritisieren und Methoden- sowie Theorienpluralität fordern. In Harvard verlassen Studenten aus Protesten den Hörsaal, in London werden 33 Thesen zur Reformation der ökonomischen Lehre an die Tür des Instituts für Wirtschaft geheftet und in Deutschland organisieren sich Studenten im Netzwerk plurale Ökonomik und laden sich kritische Stimmen ein. Aber noch immer hält das Paradigma.

Es scheint ausgeschlossen, dass wir ohne ein breiteres, kreatives und ergebnisoffenes Denken über unser Wirtschaften zu Lösungen für die Probleme unserer Zeit gelangen können. Wir brauchen einen Wandel zu mehr Offenheit im Denken über Wirtschaft, denn der schon lange vorherrschende Glaube an die Richtigkeit einer Theorie konnte weder die große Krise von 2008 vorhersehen, noch sie hinterher erklären. Die Schicksalsfrage lautet also: Wie oft muss die Ökonomie noch über die eigenen Füße stolpern bis sie wirklich beginnt, den Boden zu untersuchen auf dem sie steht?

Artikel von Alexander Feldmann, erschienen im Luxemburger Wort vom 17./18.11.2018