Nachricht vom Postzug

, von Ekkehart Schmidt




















In Zeiten von Covid-19, da der globale Luftverkehr und damit auch die fossil betriebene Luftpost zum Erliegen kommt, ist die Zeit reif für ein Wiederbeleben des Postzugs. Zeit „am Boden zu bleiben“, so fordert es auch die beinahe gleichnamige Aktionsgemeinschaft in Deutschland und schlägt vor, keine Staatshilfen für die Luftfahrtindustrie zu gewähren und so freigesetzten Angestellte als Zugpersonal umzuschulen.

Doch zurück zum Postzug. Der wird nämlich nicht nur herkömmliche Post, also Briefe, Pakete oder Fracht verschiedener Größe überbringen, sondern auch das Postzeitalter einläuten und damit unsere Zeitrechnung in ein Vorher, ein Nachher und ein Dazwischen unterteilen. Erst einmal geht es uns hier um das Dazwischen, also die Anerkenntnis, dass das Alte noch nicht ganz vergangen und das Neue noch nicht geboren ist.

Verzeihen Sie das irritierende Wortspiel: Also Post was? Postfossil – ohne Öl, Kohle und Gas. Postmodern – ohne den naiven Glauben an eine sich permanent verbessernde Technik und sich unbegrenzt vernünftig weiterentwickelnden Menschen. Postfaktisch – weil wir uns nicht mehr über die Diskussionsgrundlage einigen können und Vernunftprinzipen außer Kraft gesetzt werden. Postwachstum - weil unsere Wirtschaft chronisch Wachstumsschmerzen verursacht und wir uns unserer Lebensgrundlage berauben. Post also im Sinne von: „War einmal, geht nicht mehr, muss anders werden.“

Wie kann ein Fahrplan geschrieben werden, wenn nichts feststeht?

Soweit die Analyse ex post, also von der Vergangenheit her gedacht. Doch wenn alles post ist – alles vergangen, überholt, wissenschaftlich klar beziehungsweise populistisch verunglimpft, oder einfach ökonomischer Selbstmord, wohin soll der Zug dann weiterfahren? Wie kann ein Fahrplan geschrieben werden, der noch nicht feststeht? Wie können wir dem „post-everything“ gerecht werden? Ein Ansatz wäre: aus Fehlern lernen, denn wir werden uns anpassen müssen. Wie, das wissen wir teilweise bereits. Warum wir es dennoch kaum tun, wissen wir auch. Doch dazu gleich mehr.

Uns geht es abgesehen von Covid-19 noch ganz gut, wegen der Arbeit der Pendler. Soweit so unstrittig. Bleibt zu ergänzen, dass Grenzgänger eher als Folge einer nischenorientierten Wirtschafspolitik einzuordnen sind und nicht als genuine Antwort auf die Frage nach der Herkunft des luxemburgischen Wohlstands. Der Pendlerstrom, man könnte auch sagen die luxemburgische Wirtschaftspolitik, bringt auch bekannte Probleme. Wenn man doch nun einfach die Situation einfrieren könnte und sagen: „Ok wir haben gut 200.000 Pendleren, lasst uns entsprechende Infrastrukturen

schaffen, um den verursachten Problemen Herr zu werden“. Doch leider, so zeigt die Analyse, reicht das nicht. Das Land braucht weiterhin einen steigenden Zustrom von Arbeitnehmeren, um das Wohlstandsniveau und insbesondere die Daseinsvorsorge auf einem hohen Niveau aufrecht zu erhalten. Wir sind also Gefangene im goldenen Käfig auf dem Weg zu einer Goldallergie.

Zweifellos ist ein Postzug besser für das Klima als Luftpost und doch ist die Post die er bringt nicht nur positiv, vor allem der Umstand des Postfaktischen. Denn so kann auch das Offensichtliche noch abgestritten und Menschen, die konstruktiv Wandel bewirken wollen, können entweder als Utopisten, im Sinne von „ohnehin unrealistisch“, oder als Weltuntergangspropheten bezeichnet werden. Dabei sind die eigentlichen Utopisten diejenigen, die am bisherigen linearen, exklusiven und teilweise sehr ungerechten Status Quo festhalten wollen.

Wir wissen was wir nicht tun, obwohl wir es müssten

Während die EU-Politik massiv auf Investitionen in die Produktivwirtschaft setzt – mit dem Wort ‚Effizienz‘ als Credo, zugespitzt ausgedrückt „möglichst viele Windräder und Elektroautos“, setzt der Finanzplatz auf „grüne Investitionen“ – also quasi die und bilanzielle Seite zu Windrädern und Elektroautos. Beides wird

gebraucht und doch bleiben „Green Deal“ und „Sustainable Finance“ Antworten auf Probleme, die mit ähnlichen Logiken überhaupt erst hervorgerufen wurden - Albert Einstein wusste längst, dass man das besser unterlässt. Solange sich unser Wissen über den Zustand der Welt und unsere Gesellschaften nicht in Änderung von Handlungslogiken übersetzt – und zwar mit anderen weiteren Logiken als der bisher monopolisierenden ökonomisch finanziellen -, werden wir es nicht schaffen, den Zukunftszug zu bauen.

Denn wir haben, wie Maja Göpel vom Wissenschaftlichen Beirat der deutschen Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“ es richtig sagt, kein Umweltproblem, sondern ein Gesellschaftsproblem. Das Problem ist: Wir wissen was wir nicht tun, obwohl wir es müssten. Geht man den Gleisen nach zum

Abfahrtsbahnhof des Postzuges, sieht man dort, dass die Mutter der Probleme mit denen uns der Postzug konfrontiert die Entstehung wirtschaftlichem Reichtums und dessen Verteilung ist. Eine Studie des Forums Sozial ökologische Marktwirtschaft von 2019 zeigt die steuerliche Ungleichbelastung der Produktionsfaktoren in Deutschland: knapp 65% auf Arbeit, knapp 15% auf Kapital, knapp 5% auf Natur (Rest: Sonstige).

Bei einem solchen Ungleichgewicht sollte klar sein, dass auf Kosten der Arbeiter*innen und der Natur Reichtum erarbeitet wird, welcher später ungleich verteilt is (man vergleiche dazu die Oxfam-Studien der letzten Jahre). Ohne massive Gegensteuerung wird dieser Trend durch den Zinseszinseffekt noch weiter verstärkt werden. Dabei wissen wir: Desto gerechter eine Gesellschaft, desto gesünder,

glücklicher, zufriedener lebt sie mit einer intakteren Mitwelt. Es geht also ums Ganze.

Wie können wir das Ganze angehen? Durch das Schaffen von Möglichkeitsräumen. Räumen die es überhaupt erst ermöglichen die Fragen des Postzeitalters wirklich anzuerkennen und ihnen dann in einem reflexiven, geschichtsbewussten und offenen Prozess Antworten zu Teil kommen zu lassen. Finanziell geht dies kurzfristig über höhere Kapitalertrags-, Vermögens- und Erbschaftssteuern, langfristig über Umleitung der Wertschöpfung hin zur Arbeit als echter Wertschöpfungsquelle und somit deren steuerliche Entlastung, sowie über die Belastung von leistungslosen Einkommen und höheren Abgaben auf Naturverbrauch.

Die Kunst wird es sein, Scheitern zu lernen

Ohne eine derart finanzierte „Freiraum-Strategie“ und ohne gleichzeitigen kulturellen Wandel durch Politiken von oben, welche das Entstehen alternativer Handlungslogiken von unten begünstigen, kann uns der Übertritt in das Unbekannte nicht gelingen. Wir brauchen Räume, in denen das Neue ausprobiert, gelebt, verworfen, verbessert, gelernt und vor allem gewohnheitsmäßig etabliert werden kann. Es gibt diese Nischen bereits, doch wird ihre Relevanz bisher verkannt und sie erfahren nicht die entschiedene Zuwendung die sie brauchen um den Unterschied zu machen den es braucht. Bisher bleiben sie ein Flickenteppich kleiner Nachhaltigkeitsinseln der noch nicht stark genug ist. Es braucht jedoch ein dichtes Mosaik um Synergien und Resilienz sowie all die positiven Wirkungen wie mehr Zeit für Beziehungen und Landschaftspflege sowie Arbeit in Resonanz mit Mensch und Natur und damit Gemeinsinn zu ermöglichen.

Der aktuelle Fahrplan, ob er „Green Deal“ oder „Sustainable Finance“ heißt, sieht das nicht vor. Damit ist der Zug welcher derzeit beladen wird, schon auf alten Gleisen eingestellt, bereit zur Abfahrt auf modrigen Schwellen, rostigen Brücken und defekten Signalen – da braucht es keine eisenbahnerischen Fachkenntnisse oder Untergangspropheten, um eine Ankunft im besseren Leben für Alle als unwahrscheinlich zu erklären.

Die Kunst wird es sein, Scheitern zu lernen. Denn das haben wir bisher verpasst. Wir brauchen eine Bestimmung des Unbestimmten, so die Idee einer Ökonomie mit Möglichkeitssinn. Sonst berauben wir uns unserer Zukunft - und wer möchte das schon seinen Kindern erzählen.

Zeit, die Weichen neu zu stellen

Neben Windrädern und einigen Elektroautos brauchen wir also vor allem Zeit: Zeit, um unseren Kindern beizubringen, die Natur und sich selbst wertzuschätzen; Zeit, um den Bus zu nehmen; Zeit, um verpackungsfrei einzukaufen; Zeit, um im Gemeinschaftsgarten zu arbeiten; Zeit, um mit der Nachbarin zu sprechen; Zeit, um zu erkennen, dass Zeit eine Dimension ist und Geld nur eine Zähleinheit.

Dann könnten die Weichen neu gestellt werden, neu für einen Zug dessen Streckenplan erst beim Fahren entsteht. Es ist das Wagnis wert. In diesem Sinne könnte der ehemals einheits- und mutstifende Spruch, der sich auf ein „Haben“ bezieht „Mir welle bleiwe WAT mer sinn“ in ein dem „Sein“ und der aufklärerischen Idee der sozialen und geistigen Entwicklung zugewandetes Motto für die Zukunft umgewidmet werden „Mir welle ginn wei mer nach net sinn an laslosse wat mer net mei brauchen“.

Text: Alexander Feldmann, Fotos: Ekkehart Schmidt (Velotour zum Fonds de Gras 2012)

Artikel vom 12. April 2020, ergänzt am 20. Mai 2020